Friedensnobelpreis 1992: Rigoberta Menchú

Friedensnobelpreis 1992: Rigoberta Menchú
Friedensnobelpreis 1992: Rigoberta Menchú
 
Die Tochter eines armen guatemaltekischen Landarbeiters wurde für ihre Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und die Aussöhnung der Völker und Kulturen Lateinamerikas geehrt.
 
 
Rigoberta Menchú, * Chimel (Departamento Quiché, Guatemala) 9. 1. 1959; seit ihrer Jugend aktives Mitglied mehrerer Oppositionsgruppen, 1981 Flucht nach Mexiko, 1983 Mitarbeiterin der Menschenrechtskommission der UN, seit 1986 Beraterin der UN für die Rechte der indianischen Bevölkerung, 1987 Gründung des nationalen Versöhnungskomitees, 1996 UNESCO-Preisträgerin für Erziehung zum Frieden.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Guatemala ist eines der schönsten und interessantesten Länder der Neuen Welt: ein Land des »ewigen Frühlings« mit großartigen Vulkanlandschaften, vom Regenwald überwucherten Kultstätten der klassischen Mayazeit und bedeutenden Baudenkmälern der kolonialen Epoche sowie einer bis heute lebendigen indianischen Kultur. Die Republik gehört zugleich aber auch zu den ärmsten Staaten Lateinamerikas: Ungefähr die Hälfte ihrer Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, etwa ebenso viele Einwohner sind Analphabeten, arbeitslos oder unterbeschäftigt, die Kriminalitätsrate ist erschreckend hoch, Entführungen, Menschenrechtsverletzungen jeder Art und Fälle von Lynchjustiz sind an der Tagesordnung. Diese trostlose Situation ist zum Teil die Folge verheerender Naturkatastrophen, vor allem aber auch das Ergebnis eines Bürgerkriegs, der erst im Dezember 1996 offiziell beendet wurde.
 
 Die politische Situation
 
Wie die Bürgerkriege in anderen Ländern Lateinamerikas entstand der Konflikt durch die krassen sozialen Gegensätze zwischen einer dünnen Schicht von Großgrundbesitzer auf der einen und der Masse von Kleinbauern und Landarbeitern auf der anderen Seite. In den 1940er- und 1950er-Jahren wurden zwar von linksgerichteten Staatspräsidenten Maßnahmen zur Umverteilung der Ländereien zugunsten der Kleinbauern und Landarbeiter eingeleitet, die Landreform scheiterte jedoch hauptsächlich am Widerstand der USA, die als selbst ernannte Ordnungsmacht in Mittelamerika den Weg der Republik zum Sozialismus mit größtem Misstrauen verfolgte und zudem befürchtete, dass die in Guatemala tätigen US-Konzerne bei den Landreformen enteignet werden könnten. Eine vom US-Geheimdienst CIA im benachbarten Honduras aufgestellte Truppe marschierte 1954 in das Land ein und setzte den Staatspräsidenten ab. Im Kampf gegen die ersten Guerillagruppen, die in den 1960er-Jahren im Nordosten Guatemalas operierten, wurden die einheimischen Streitkräfte ebenfalls von den USA tatkräftig unterstützt — eine massive Einmischung in die Landespolitik.
 
Die Zahl der Menschen, die in dem über 30 Jahre dauernden Bürgerkrieg ihr Leben verloren, ist unbekannt; die geschätzten Zahlen schwanken zwischen 100 000 und 200 000, allein etwa 42 000 Todesopfer sind namentlich bekannt. Nach der »Studie über die Wiedergewinnung der historischen Wahrheit«, Ende der 1990er-Jahre veröffentlicht, steht allerdings fest, dass für die im Krieg verübten Gräueltaten in erster Linie die regulären Streitkräfte und die »Todesschwadronen«, die Freiwilligenverbände der extremen Rechten, verantwortlich waren. Ebenso sicher ist, dass mindestens 80 Prozent der Opfer zu den indianischen Bevölkerungsgruppen Guatemalas gehörten.
 
Die größte dieser Gruppen sind die Quiché-Indianer, sprachlich und kulturell Nachfahren der Maya, die von jeher als Kleinbauern im Hochland Mais und Bohnen anbauen, vielfach aber auch als Landarbeiter auf den großen Plantagen an der Pazifikküste arbeiten. Die Menchús — Vater Vicente, die Mutter, Rigoberta und ihre acht Geschwister — pendelten so in den 1960er- und 1970er-Jahren zwischen den Plantagen und ihrem Heimatdorf hin und her, doch überall waren die Arbeits- und Lebensbedingungen unerträglich. Zwei Brüder Rigobertas starben schon im Kindesalter, der eine verhungerte, der andere erlitt eine Pestizidvergiftung. Für die meisten Quiché-Indianer war ein solches Leben normal, denn es war für sie Folge eines seit Jahrhunderten gültigen Gesetzes, das sie mit stoischem Gleichmut erfüllen und ertragen mussten. In dieser Beziehung verhielt sich Vicente Menchú allerdings anders als die meisten seiner Landsleute: Er rief zum Widerstand gegen die menschenverachtende Gesellschaftsordnung auf, gründete eine Widerstandsgruppe — und wurde im Januar 1980 während einer Demonstration von der Armee umgebracht. Bereits wenige Monate zuvor hatte Rigoberta mit ansehen müssen, wie Soldaten ihren Bruder verbrannten, ein Vierteljahr später wurde auch ihre Mutter auf bestialische Weise ermordet. Die widerspenstige Familie Menchú sollte offenbar systematisch ausgerottet werden, und Rigoberta floh deshalb — wie tausende ihrer Landsleute zuvor — 1981 nach Mexiko.
 
 Der Krieg, der sich »Frieden« nennt
 
Vermutlich hätte die Weltöffentlichkeit nie etwas von diesem fast normalen Schicksal einer guatemaltekischen Indianerfamilie erfahren, wenn Rigoberta Menchú 1982 auf einer Europareise nicht die französische Anthropologin und Journalistin Elisabeth Burgos-Debray kennen gelernt hätte. Mit ihrer Hilfe verfasste sie das Buch »Ich heiße Rigoberta Menchú, und so wurde mein Bewusstsein geboren«, einen Weltbestseller, der ihr den Weg in mehrere Kommissionen der Vereinten Nationen ebnete und ihrem Kampf um die Rechte der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas damit Nachdruck verlieh. Die Friedensnobelpreisträgerin von 1992, übrigens die jüngste in der Geschichte dieses Preises und die erste Indianerin, hat sich darüber hinaus immer auch um Aussöhnung zwischen den verfeindeten Bürgerkriegsparteien in ihrer Heimat eingesetzt. Damit stellte sie sich eine Aufgabe, die angesichts andauernder Menschenrechtsverletzungen in Guatemala größter Anstrengungen bedarf, denn jahrzehntealte Mechanismen der Unterdrückung funktionieren offenbar hervorragend: Menschen, die sich für die Rechte anderer einsetzen, werden bedroht, verschwinden spurlos oder werden auf brutalste Weise ermordet. Als Beispiel sei hier der bekannte Bischof und Bürgerrechtler Juan Gerardi Conedera genannt, den man im April 1998 in Guatemala-Stadt mit einem Pflasterstein erschlug. Bei Prozessen gegen Täter, die sich im Krieg des Völkermords schuldig gemacht haben, ist die massive Einschüchterung von Zeugen und Richtern üblich; wenn Straftäter dann einmal verurteilt werden, kommen sie oft mit lächerlich geringen Geldstrafen davon und können weiter unbehelligt höchste Ämter im Staat und in der Gesellschaft übernehmen. Unter einem solchen Klima blüht auch die private Kriminalität; ehemalige Armeeangehörige und Guerilleros betätigen sich zunehmend kriminell, begehen, straff organisiert und extrem gewalttätig, Raubüberfälle und halten so den Kriegszustand in vielen Landesteilen aufrecht. Für Rigoberta Menchú und ihre Mitstreiter bleibt also auch nach dem offiziellen Ende des Bürgerkriegs noch viel zu tun.
 
P. Göbel

Universal-Lexikon. 2012.

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